Gedanken zur Gründung der progressiven Piraten

veröffentlicht von Esmeralda, geändert am , 19 Kommentare
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Ich habe mir die Mumblesitzung zur Gründung der progressiven Piraten mit großem Interesse angehört. Jetzt fasse ich meine Gedanken dazu zusammen.

Die Sitzung war von vornherein auf drei Stunden begrenzt; naturgemäß ist es in der Zeit unmöglich, endgültige Ergebnisse zu erzielen. Deshalb werden wir alle noch ein wenig warten müssen, bis wir erfahren, wie es genau mit den progressiven Piraten weitergeht. Der Anfang ist aber gemacht und die Statements während der Sitzung bringen schon einmal ein wenig Licht ins Dunkel der tatsächlichen Probleme in der Partei.

Die erste Frage, die besprochen wurde, lautete: "Was sind die Konflikte in der Partei? Wo und wie beziehen wir Stellung?"

Zu diesem Thema wurde am ausführlichsten diskutiert. Das liegt in der Natur der Sache. Die progressiven Piraten befinden sich derzeit in einer Situation, die gern als defensiv bezeichnet werden darf. Sie haben lange und hart daran gearbeitet, ihre Themen in der Partei zu platzieren und Werbung dafür zu machen. Das Ergebnis, das in unser Programm eingeflossen ist, kann sich durchaus sehen lassen. Dennoch wurde ihnen auf dem Bundesparteitag in Halle eine deutliche und sehr schmerzhafte Absage erteilt, was die Meinungshoheit innerhalb der Partei anbelangt.

Diese Situation mag unseren Progressiven fremd sein; die Kernis, die es lange Zeit gern gesehen hätten, wenn die Partei ihre Expertenposition zur Informationstechnologie, Bildung und zu den Bürgerrechten gehalten und ausgebaut hätte, kennen diese Situation schon. Das Frankfurter Kollegium wurde ja aus einer sehr ähnlichen Gefühlslage heraus gegründet.

Zusammenfassend sehen die progressiven Piraten als Konfliktpotenzial in der Partei:

  1. Aggressives Verhalten; das wird Vertretern beider "Lager" gleichermaßen zugeordnet. Ausfällige, abwertende Wortwahl gegenüber der jeweils anderen Gruppe, Entwertung der geleisteten Arbeit, Übersteigerung des Wertes der jeweils eigenen Arbeit.
  2. Dem progressiven Ansatz, über die Gegenwart hinauszudenken, Visionen und Utopien zu entwickeln und so den sozialen Aspekt der digitalen Revolution einzubeziehen steht eine gegenwartsbezogene Einstellung gegenüber, die den Ist-Stand im Auge hat und verhindern will, dass die Werkzeuge, die die digitale Revolution uns in die Hand gibt, missbraucht werden, aber eben die Möglichkeiten für die fernere Zukunft nicht in Betracht ziehen will. Das wird als ängstlicher, wenig visionärer Ansatz wahrgenommen, der sich an Wählerstimmen orientiert, die es zu gewinnen oder verlieren gibt.
  3. Arbeit an kosmopolitischen, feministischen, kulturoptimistischen, antirassistischen Themen und Teilhabe (wie SMV) wird durch den ständigen Erklärungsbedarf extrem erschwert. Es wird als anstrengend empfunden, diese Begrifflichkeiten immer wieder aufs Neue erklären zu müssen, sich hier immer wieder in einer Verteidigungsposition wiederzufinden.
  4. Progressive politische Arbeit wird mutwillig gestört, teilweise völlig unmöglich gemacht. Technische Werkzeuge wie Mumbleserver werden vorsätzlich unbrauchbar gemacht.
  5. Abwesenheit von innerparteilicher Demokratie.
  6. Der Wunsch, die Gesellschaft zu verändern, nicht die Piraten. Die Betonung sollte auf Inklusion und Teilhabe liegen, nicht auf gesellschaftlicher Nachkorrektur von Mißständen. Kompromissfähigkeit wird an dieser Stelle eingefordert - wer nicht in der Lage ist, Brücken zu schlagen, der ist als Partei nicht kompromissfähig.
  7. Distanz zu ausschließlicher Herrschaftskritik sollte gehalten werden. Privilegien sollten hinterfragt und ausgeglichen werden.

Was sich anhand dieser Aussagen für mich herauskristallisiert, ist einerseits der Kritikpunkt, der allen Piraten schon lange bewußt ist, ohne dass jemand wirklich versucht, an dieser Stelle gegenzusteuern: Verhaltensweisen, die nicht sozialverträglich sind. Das ist ein Punkt, an dem wir uns alle einig sind und an dem wir unbedingt gemeinsam arbeiten sollten.

Der zweite Punkt ist schon knackiger, denn er betrifft Inhaltliches: Die Progressiven begreifen sich als diejenigen, die die Visionen haben, in die ferne Zukunft blicken und Utopien entwickeln, ohne auf das Wählerpotenzial zu achten. Sie begreifen die Sozialliberalen als diejenigen, die Politik für den Moment gestalten wollen, um für Wähler attraktiv zu sein. Die Gefahr, dann zu einer Partei zu werden wie wir schon sehr viele haben, möchten die Progressiven gerne abwenden.

Und letztlich die große inhaltliche Differenz, die noch sehr ausführliche Debatte erfordern wird: Der Wunsch nach Betonung von Feminismus, Antirassismus, Antifaschismus, Kulturoptimismus, Kosmopolitismus. Alles selbstverständlich Teil dessen, was allen Piraten im Knochenmark steckt, sonst wären sie keine. Aber - und das sehen die Progressiven durchaus - teilweise doch sehr schwer vermittelbare Themen, eventuell zu sperrig für Wahlkämpfe. Expertise an dieser Stelle öffentlich zu machen, ein Publikum dafür zu bekommen, ist eine Aufgabe, die mit Sicherheit nicht leicht zu lösen ist.

Während ich den Statements zuhörte, wuchs in mir der Wunsch, die progressiven Piraten mögen den Freiraum, den sie benötigen, um ihre Themen ausführlich zu besprechen und vermittelbar auszugestalten, bitte bekommen, denn vieles, was ich da hörte, war durchaus bedenkenswert und auch sehr interessant. Ich hoffe sehr, dass die Sozialliberalen, die vor anderthalb Jahren in einer ähnlichen Sinnkrise steckten und sich diesen Freiraum nahmen, hier mehr Verständnis aufbringen werden als ihnen damals entgegengebracht wurde. Letztlich, ich sagte es eingangs, kennen sie die Gefühlslage aus eigener Erfahrung nur zu genau.

Ich äußere hier und jetzt den Wunsch und die Bitte an die kernigen Kollegen in dieser Partei: Lasst die Progressiven bitte in Ruhe arbeiten! Die Ansätze, die ich zu hören bekam, sind außerordentlich interessant und ich möchte dringend die Ausarbeitungen und Anträge sehen, die dazu entstehen werden. Wenn ich mich dafür "besoffene Dachlatte" nennen lassen muss, dann bin ich gern bereit, das hinzunehmen. Wenn ich dabei zusehen darf, wie diese Visionen und Utopien entwickelt werden, bin ich ausgesprochen erfreut.

Den Kernis bin ich trotzdem weiterhin zuzuordnen. Mir liegt die Tagesarbeit, das Hier und Jetzt deutlich mehr. Auch die Arbeit daran, politisch in einer Weise zu wirken, die uns für Wähler attraktiv macht, die uns als Experten auf den Gebieten Informationstechnologie, Datenschutz, Bildung und Bürgerrechte ausweist und damit Themenfelder besetzt, die von den derzeit mit Mandaten versehenen Politikern größtenteils mißachtet, teilweise schändlich mißbraucht werden, halte ich für sehr wichtig und für sehr erfolgversprechend.

Wenn wir es richtig anfangen, uns gegenseitig Respekt entgegenbringen, Raum zum Erarbeiten von Positionen lassen und uns zwischendurch gegenseitig über die Schulter gucken, dann kann aus dieser Partei das Beste werden, was der Welt bisher passiert ist.

Ich hoffe stark, dass wir diese Chance nicht wieder dem Bedürfnis nach Rechthaben opfern, sondern sie endlich sehen und auch wahrnehmen!

Kommentare

Bernhard Hanakam

schrieb am

Ich war ja schon immer der Ansicht, dass sich die sozialliberalen und progressiven gegenseitig brauchen. Man braucht die, die für die Gegenwart Politik machen, um eine Grundlage für die Visionen der progressiven zu schaffen. Gleichzeitig braucht man die Visionen, damit man überhaupt weiß, wohin es gehen soll, damit man auch die richtigen Grundlagen schaffen kann.

Ich selbst bin irgendwo dazwischen und wünsche mir, mit allen zusammen arbeiten zu können.

Aleks

schrieb am

Vielen Dank für deine Zusammenfassung der Mumble Sitzung.

Also,

progressiv sind Mitglieder der Piratenpartei per definitionem. Wer ein solches Programm wie das der Piratenpartei trägt ist eher progressiv. Piraten sind nur konservativ, wenn es um die Bürgerrechte geht. Und das ist auch gut so.

Entsprechend finde ich das Label "progressiv", das diese Mitglieder sich geben, beleidigend den anderen Mitglieder gegenüber.

Es ist derailing und semantische Spielerei. Und die, dachte ich, hätten die Piraten hinter sich gelassen.

Das Frankfurter Kollegium - das kann ich als Mitbegründer und treibende Kraft klar sagen - gründete sich, um gegen Gewaltbereite, mobbende Piraten Kante zeigen zu können. Um Stuß wie #flaggengate, #molligate und #bombergate zu verhindern - was uns nicht gelang, in dieser Form nicht erwartet hatten aber in ähnlciher Form kommen sahen.

Und nicht, um konservative Themen auf den Tisch zu bringen. Wer Links/sozialliberale Positionen als "Konservativ" tituliert hat allen Anschein nach nicht viel Kontakt mit anders denkenden gehabt.

Ich war nicht im von dir angesprochenen Mumble - um dieser Gruppierung Freiraum zu geben. Kamen selbstkritische Töne auch vor oder wurde gar nicht analysiert, wieso die vermeintlichen oder tatsächlichen Kandidaten dieser Gruppierung höchstens ein Drittel der Stimmen für sich vereinen konnten, wieso zwei Drittel der zum Parteitag hingereisten Piraten deren Kandidaten ablehnten, was sie möglicherweise in der Vergangenheit falsch gemacht hätten?

Denn sogar ich als a-religöser agiere nach Matthäus 7:3 und kümmere mich zuerst um die eigenen Balken und danach erst um die Splitter im Augen der Anderen.

Und wer zum Henker wagt es, dich zu beleidigen? Was soll das? Was ist das für einen Ton zwischen Menschen? Haben die Piraten wirklich nichts dazu gelernt aus den Geschehnissen des letzten halben Jahrs?

Piraten brauchen die Spannung zwischen Pragmatiker und Visionäre, zwischen "links" und "weniger links". Sie erzeugt Wärme, sie kann Konsens erzeugen, sie bringt eine Gruppe voran.

Aber dieser Alleinvertretungsanspruch, der schon in der Namenswahl sich äussert, diese fehlende Selbstreflektion und die Aggresivität vieler Aussagen lassen mich zweifeln, ob die Gruppe, die in Halle den kürzeren zog zur Zusammenarbeit fähig und willens ist.

Und dass die im Foyer noch "Die Internationale" singen müssten lässt mich fragen, ob sie sich nicht bei anderen Gruppen, deren Hymne "Die Internationale" ist, wohler fühlen würden.

Ich könnte sonst noch auf Vieles eingehen, was diese Gruppe nach deiner Wiedergabe falsch tut oder sagt. Aber im Sinne eines friedlichen Miteinanders werde ich das sein lassen.

Danke Aleks

Edelweißpirat

schrieb am

einfach nur, JA !...mit diesem Text hast Du sowas von recht....DANKE

icke2AIDA

schrieb am

Huhu,

ich will nur einen Satz aufgreifen: "Mir liegt die Tagesarbeit, das Hier und Jetzt deutlich mehr."

Das tun täglich viele sogenannte "Progressive" in Berlin zum Beispiel:

  • Im Berliner Abgerdnetenhaus
  • in den Rathäusern der Berliner Bezirke

Und würde sich manch ein sogenannter "Kerni" oder "sozial liberaler" die Mühe machen, die Drucksachen der Rathäuser und des Abgeordnetenhauses zu durchstöbern wird schnell auffallen:

  • da sind mehr Themen, die den "Kernis" oder "Sozialliberalen" zuzuordnen sind, behandelt worden. Mehr als scheinbar derzeit die Vorstellung darüber gerade bei "KErnis" und "Sozialliberalen" vorhanden ist, geschweige was bisher der Frankfurter Kranz seit seiner Entstehung geliefert hat.

xwolf

schrieb am

Mir sind die Labels egal.

Nur eines ist wichtig: Wer in der Piratenpartei sein möchte, muss sich an die Satzung halten, insbes. §1.1. Und ich erwarte, dass die Unvereinbarkeitserklärung (nicht die relativ unspezifische von der Antifa, sondern die erläuterte Fassung wie hier: http://piraten-erlangen.de/2012/04/24/unvereinbarkeitserklarung/ ) respektiert wird.

Ich werde allen Piraten meine Hände reichen, die Piraten sein wollen. Gleich unter welchem Label sie sich sehen. Wer die Piraten aber entern und für sich ausnutzen, wie ein Virus eindringen und dann von innen heraus in seinem Sinne mutieren lassen will, muss mit Gegenwehr rechnen.

Sorry, wenn dies negativ klingt. Aber auch #1000Hände bedeutet nicht, dass irgendeine Hand sich von wilden Hunden beißen lassen muss.

klml

schrieb am

Auch wenn ich mich selber weder noch zuordnen würde, dazu sind mir die sogenannten Sozialliberalen (aka kernies) zu status quo zentriert und die Progressiven zu revolutionär.

Das "Lasst die Progressiven bitte in Ruhe arbeiten! Die Ansätze, die ich zu hören bekam, sind außerordentlich interessant und ich möchte dringend die Ausarbeitungen und Anträge sehen, die dazu entstehen werden." finde ich wichtig.

Das bedeutet aber auch das man die Arbeit oder Ansicht des jeweilig andern auch schmerzhaft akzeptieren muss. Nicht jeder wird mit einer Antifa Flagge oder einem Anti-BGE-T-Shirt einverstanden sein, aber man muss bis zu einer gewissen Grenze, das auch akzeptieren können und nicht aus jeder Meinungsverschiedenheit gleich die Freund Feind Linie ziehen.

Ich selber z.B. finde das BGE nicht gut, aber die strikte Ablehnung und verbale Aggression der BGE Gegner viel schlimmer. Sinnvollen weiterführende Diskussionen, die es ja gibt, gehen da nämlich zu schnell unter.

Klar ist Politik, auch innerparteiliche Politik wichtig, eine Partei ist eine demokratische Kampfeinheit (leider) und kein Konsensladen. Aber den Parteizwiste, den es in jeder Partei gibt, können die Piraten als Partei schon besonders gut; vor allem im Verhältnis zur real erbrachten Politik.

@icke2AIDA

schrieb am

Huhu, Du fäßt es in Deiner Antwort richtig zusammen und gebe Dir auch völlig recht.

Nur so wurde von "lauten Menschen auf Twitter" nicht suggeriert... Ih denke, damit erwähne ich nichts neues. Lieber wurde / wird? diesen sogenannten Linken vorgeworfen, sie würden nur "ein" Thema "bearbeiten" ...

zum NSA Skandal: Hätte da aber nicht vor allem dann etwas von dem Frankfurter Kranz kommen MÜSSEN? Ist es nicht - wenn ernsthaft die Meinung herrscht, die Piraten besteht aus der Gruppe von "Kernis" und "Progressiven" - eine billige Ausrede hier zu rufen, es hätte von ALLEN Piraten Dinge geschehen müssen? Natürlich hätte von allen Piraten etwas kommen KÖNNEN, aber gerade im Kranz haben sich doch Piraten, die gerade so ein Kernthema wie die NSA Thematik vertreten wissen wollen, gesammelt?

Esmeralda

schrieb am

Daher kam meine Auflistung sich zu erkunden, was eigentlich so in dem Abgeordnetenhaus und den Bezirksparlamenten geleistet wird.

Und provokant oder nicht - das letzte wird sein, das ich mich sprachlich verbiegen werde und damit meine eigene Authentität verliere - da war ja diese Sache mit Toleranz und Respekt. Die fängt auch an solchen Stellen an.

Aleks

schrieb am

@icke2AIDA Deine Sprachbenutzung ist aggressiv und abwertend. Aggression darf nicht Mittel der Politik und noch weniger des Diskurses sein.

Die richtige Antwort auf Gewalt und Aggression ist es, sie anzuprangern und sich von ihr fern zu halten.

Ich bewundere Astrid immer wieder, wie sie darüber hinwegschaut. Das muss ihr unheimlich Kraft kosten.

Schade Aleks

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