Die Bahn - fünfter Teil
veröffentlicht von Esmeralda
Es ist Mittwochmorgen, sechs Uhr fünfundzwanzig. In einem Anfall von Wahnsinn habe ich, nachdem ich meinen Zug zur Arbeit bestiegen habe, mich auf die Bank direkt neben der Tür gesetzt. Selbstverständlich habe ich sie geschlossen, nachdem ich das Abteil betreten habe. Ich stöpsele meine MP3-Player-Ohrhörer in die Ohren und widme mich dem Studium der französischen Sprache. Der Zug fährt an, ich schließe die Augen und wiederhole stumm die vorgesprochenen Übungen.
Sechs Uhr neunundzwanzig. Der Zug hält an der nächsten Haltestelle. Die Abteiltür öffnet sich, herein kommt ein haarloser Jüngling in Springerstiefeln, blickt wild um sich und setzt sich zu dem netten jungen Mann, der an meiner Station eingestiegen ist. Die Herren kennen sich offensichtlich, der Neuankömmling fängt mit großspuriger Stimme an, den Bericht über den vergangenen Abend herunterzuspulen, nur unterbrochen durch gemurmelte Zwischenbemerkungen des anderen. Die Abteiltür bleibt offen. Ich schließe sie, still in mich hineinfluchend. Auf Deutsch, die französischen Flüche sind schließlich Fortgeschrittenenstoff.
Sechs Uhr einunddreißig. Der Zug hält an der nächsten beleuchteten Milchkanne. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um eine etwas größere Milchkanne handelt, steigen natürlich auch mehr Menschen ein. Die Abteiltür geht auf, herein stürmt ein junges Mädchen, offensichtlich vollständig echauffiert vom erfolgreichen Versuch, den Zug zu bekommen. Sie rennt durchs Abteil und läßt sich auf die letzte leere Bank fallen. Die Tür bleibt offen. Ich fluche leise und schließe die Tür. Sie bleibt nicht lange zu, denn es hat den Anschein, als ob in dem Wagen vor uns keine Sitzplätze mehr frei seien. Drei junge Herren, leger gekleidet und ohrverstöpselt, reißen die Abteiltür des gegenüberliegenden Abteils auf, treten auf unser Abteil zu, reißen auch hier die Abteiltür auf und gehen den Gang entlang, nicht ohne sich gegenseitig lautstark zu versichern, dass auch in diesem Abteil nicht ausreichend Sitzplätze für sie vorhanden seien. Die Abteiltür bleibt offen, ebenso wie die des gegenüberliegenden Abteils. Ich fluche leise und schließe die Tür. Der Herr, der im gegenüberliegenden Abteil den Platz an der Tür eingenommen hat, tut desgleichen.
Sechs Uhr achtunddreißig. Wir erreichen nach einen Zwischenstop an einem Winz-Bahnhof, an dem gottseidank niemand in unser Abteil wollte, die nächste größere Stadt. Auf dem Bahnsteig drängen sich Horden von Menschen, da muss ein Regionalexpreß ausgefallen sein. Die Wagentüren werden aufgerissen, Menschenmassen fallen in den Zug ein. Unsere Abteiltür öffnet sich, drei, vier, fünf, sechs, sieben Menschen passieren meine Bank. Die Tür bleibt offen. Das macht sich besonders schmerzhaft bemerkbar, weil die Wagentür ebenfalls noch offen ist und somit ein saukalter Wind ins Abteil weht. Ich fluche und schließe die Tür.
Auf den vier Sitzen neben mir haben es sich inzwischen die angehenden Kindergärtnerinnen bequem gemacht und erzählen sich gegenseitig von ihren Ausbildungsbetrieben. Die Tür geht auf, herein tritt ein Knabe von vielleicht vierzehn Jahren, läßt sich auf die Bank mir gegenüber fallen und wirft den MP3-Player an. Die Tür bleibt offen, mein MP3-Player ist schon lange wieder aus. Ich kann so nicht arbeiten! Dafür schließe ich mit einem bitterbösen Blick auf mein Gegenüber die Tür. Das hätte ich mir sparen können, denn kaum ist sie zu, schon ist sie wieder auf. Diesmal betritt ein ehrfurchtgebietender älterer Herr das Abteil, und schließt, man sollte es nicht glauben, die Tür hinter sich. Danach setzt er sich schweigend neben mich, was Abzüge in der B-Note bedeutet. Aber immerhin: Er kriegt die Tür zu, das kann nicht jeder. Ein wohlwollender Blick meinerseits verwirrt ihn leicht, er weiß meine Dankbarkeit nicht recht einzuordnen. Der Zug fährt an.
Sechs Uhr dreiundvierzig. Nächste Haltestelle. Der Flegel in den Springerstiefeln und sein Kumpel müssen hier raus, dafür steigt aber auch keiner mehr ein. Die Tür bleibt offen. Der Herr neben mir schließt sie. Den bissigen Kommentar verkneift er sich nicht. Eigentlich Verschwendung, die beiden hören's eh' nicht.
Sechs Uhr achtundvierzig. Vorletzte Haltestelle. Hier müssen einige Leute aussteigen. Sie tun's, machen sogar die Abteiltür hinter sich zu, was aber nichts nützt, weil der unterbelichtete Trottel, der jetzt einsteigt, die Tür natürlich offen läßt. Der Herr neben mir schreit "Tür zu!", der Trottel grinst ihn bloß blöde an. Ich schließe die Tür, weil ich meine Ruhe haben will.
Sechs Uhr zweiundfünfzig. Der Zugbegleiter (vulgo: Schaffner) sagt durch, dass wir gleich am Hauptbahnhof ankommen werden. Er sagt noch einiges mehr, ich höre ihm aber nicht zu, sondern packe meine Siebensachen und verlasse das Abteil. Der Herr, der neben mir gesessen hat, holt schon tief Luft, als ich mich mit elegantem Schwung umdrehe, ihn strahlend anlächle und - die Tür schließe. Dann zwinkere ich ihm zu. Er grinst - wir verstehen uns!
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