Piraten, Liquid Feedback und Kommunikationsknoten

veröffentlicht von Esmeralda, 10 Kommentare
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Heute ist ein relativ schlechter Tag für die Piratenpartei Deutschland. Denn Liquid Feedback kommt zwar, aber nicht so, wie sich die Ersteller das gedacht haben, nicht so, wie mancher Pirat sich das gedacht hat und erstmal überhaupt nicht.

Warum?
Ja, gute Frage...

Auf dem Bundesparteitag 2010.1 in Bingen wurde die bundesweite Einführung von Liquid Feedback beschlossen. Im entsprechenden Abschnitt des Protokolls ist der Antragstext zu finden, den ich jetzt einfachheitshalber mal hier hineinkopiere:

Die Piratenpartei Deutschland richtet eine eigene bundesweite Instanz von LiquidFeedback ein. Zu dieser erhält jeder Pirat einen persönlichen Zugang. Die in LiquidFeedback beschlossenen Anträge sind nicht bindend sondern bilden lediglich das Meinungsbild der teilnehmenden Piraten ab. Für den Betrieb des Systems werden zunächst einmalig 800 Euro zur Verfügung gestellt. Der Betrieb des Systems soll innerhalb von 60 Tagen aufgenommen werden. Der Landesverband Berlin wird gebeten die Inbetriebnahme von LiquidFeedback zu unterstützen.

Dieser Antrag ist bedauerlicherweise nach allen Seiten offen und das sollte uns Piraten vor allem lehren, genau hinzusehen, bevor wir unsere Fliegenklatsche mit der Stimmkarte heben. Der Landesverband Berlin, der laut Antragstext gebeten wurde, die Inbetriebnahme zu unterstützen, war de facto ausführende Instanz. Warum auch nicht? In Berlin wurde (und wird) Liquid Feedback bereits genutzt, und zwar nicht nur für Meinungsbilder, sondern auch zur Entscheidungsfindung. Die Berliner hatten also nicht nur von guten Erfahrungen zu berichten, sondern wussten auch, wie es geht. Oder vielmehr: Wie es in Berlin für Berlin beschlossen und genutzt wird.

Von der Intention her sollte Liquid Feedback eigentlich nicht mehr tun und nicht mehr können, als Meinungen abzubilden. Dummerweise ist es (oder war bis jetzt, wenn wir ganz korrekt sein wollen) aber in den Augen der Macher auch dazu da, die "Parteigeschichte zu dokumentieren". Und das bedeutet, dass alles, was der User an sich in diesem Tool hinterlegt, einerseits für recht lange Zeit gespeichert wird, andererseits auch im Rahmen eines allgemein verfügbaren Datenbankdumps jedermann zur Verfügung steht. Das birgt natürlich Risiken, die der Pirat an sich sofort sieht und stark bewertet. In dem oben verlinkten Protokoll sind durchaus einige Bedenken vorgetragen worden: Dass Arbeitgeber auf diese Weise jederzeit die politische Meinung von Mitarbeitern abfragen könnten, dass eine Meinungsäußerung, die man vor einem Jahr getätigt hat, eventuell nicht mehr gültig, aber trotzdem so wahrgenommen werden könne, dass man trotz anonymer Teilnahme auf lange Sicht aufgrund verschiedener weicher Parameter (Freunde, Formulierungen, Delegationen etc.) doch wiedererkennbar sein könnte...

Die Vertreter des Berliner Landesverbandes konnten 80% der Bundesparteitagsteilnehmer davon überzeugen, dass diese Bedenken gegenstandslos wären und so wurde die bundesweite Einführung mit dieser Mehrheit angenommen.
Und dann kam die Realität...

Die Realität sieht so aus, dass das Budget von 800,-- Euro erstmal drastisch überschritten wurde, weil für die Ausarbeitung der Nutzungsbedingungen und Datenschutzerklärung vernünftigerweise eine - gute - Anwaltskanzlei in Anspruch genommen wurde. Dann ist im Nachgang wohl doch einigen Leuten aufgegangen, dass das gläserne Hinterzimmer der Piraten eben durchsichtig ist und so viel Transparenz kann schon ein mulmiges Gefühl machen. Das System wurde angepasst, manches wurde als unabdingbar für die Glaubwürdigkeit des Systems dargestellt und nicht angepasst, es wurde diskutiert, gestritten und mit wirklich extrem unfeinen Mitteln "gekämpft".

Das Bundesschiedsgericht hat beispielsweise auf Klage und Antrag auf einstweilige Verfügung hin die Einführung eben durch einstweilige Verfügung zeitweilig gestoppt. Das ist prinzipiell eine nachvollziehbare Entscheidung, wenn man bedenkt, dass ja eine Entscheidung über die Klage auf Nichtigerklärung des Parteitagsbeschlusses zu treffen war. Das hat dem vorsitzenden Richter einiges an Ärger eingebracht, der bis hin zur physischen Bedrohung ging.

Gestern ist ein Bundesvorstandsmitglied zurückgetreten, das nichts Schlimmeres getan hatte, als einen Antrag einzubringen, der die Einschränkung des Systems vorsah (beispielsweise keine Datenbankdumps, eingeschränkte Anzeige für nicht angemeldete Benutzer, Löschung aller Zuordnungen zu Personen nach dem Bundesparteitag im November) und der sich daraufhin ebenfalls massiven persönlichen Bedrohungen ausgesetzt sah.

Erschwerend kommt hinzu, dass der dpa noch vor der gestern abend stattgefundenen Bundesvorstandssitzung, auf der der Start endgültig beschlossen werden sollte (oder auch nicht, kommt auf die Sichtweise an) offensichtlich eine Pressemeldung zuging, die den Start von Liquid Feedback bereits als Tatsache darstellte.

Sie fragen,wer diese Pressemeldung herausgegeben hat?

Nun, der Betreffende hat sich bisher noch nicht gemeldet. Von daher kann man auch nur annehmen, dass damit sichergestellt werden sollte, dass der Bundesvorstand den "richtigen" Beschluss träfe. Er tat es übrigens nicht, aber das nur mal so nebenbei.

Während diese ganzen Ereignisse ihren Lauf nahmen, wurde auf der bundesweiten Mailingliste der Piraten "diskutiert". Will heißen: So mancher Pirat vertrat mal wieder seinen Standpunkt als den einzig möglichen und erklärte alle, die einen anderen Standpunkt vertraten, zu Deppen. Milde ausgedrückt.

Das mit der bundesweiten Mailingliste ist übrigens ein Phänomen, das nicht auf Liquid Feedback beschränkt bleibt, auch wenn es bei diesem Thema besonders deutlich zu Tage trat. Grundsätzlich gibt es auf dieser Liste eine Handvoll Teilnehmer, die wirklich nicht wissen, wo ihre Grenzen sind. Ich fürchte, dass es genau diese Leute unter den Befürwortern waren, die gemeint haben, sie müssten Leuten, von denen sie annahmen, sie wollten Liquid Feedback verhindern, mit physischer Gewalt drohen (und psychische anwenden, beispielsweise Telefonterror).

Der federführend Verantwortliche für Liquid Feedback ist selbstverständlich ebenfalls Mitglied des Bundesvorstands. Das Team, das sich um die Implementierung des bundesweiten Liquid Feedback gekümmert hat, umfaßt zwölf Entwickler, die seinen Angaben zufolge über 2 MJ (zwei Mannjahre) in die Entwicklung gesteckt haben - und das in einem Zeitraum von etwas mehr als zwei Monaten. Sicher ist es ärgerlich (sogar mehr als das), wenn man so viel von seiner Freizeit in dieses Projekt gesteckt hat. Sicher ist es auch ärgerlich, wenn man verschiedene Leute um Feedback gebeten hat, aber keines wahrgenommen hat. Und es ist mehr als ärgerlich, wenn man dann dasteht, eigentlich aufs Knöpfchen drücken könnte, damit es losgeht - und dann kommt dieser Bundesvorstand und bremst einen aus. Ich verstehe vollkommen, dass das Team, das diese Entwicklung durchgeführt hat, wirklich verärgert ist.

Verstehen kann ich nicht, dass sich dieser Teamleiter dann nicht entblödet, dieses alles während der Bundesvorstandssitzung hochbetont von sich zu tun und mit der selbstverständlich unausgesprochenen Drohung zu verbinden, ab jetzt die Mitarbeit vollständig zu verweigern. Natürlich sagte er nicht, dass die zwölf Herren, die sich so unendlich um die Verwirklichung dieses Traums bemüht haben, nicht bereit sein würden, ihre weitere Unterstützung zu gewähren. Allein: Die sofortige, kommentarlose Abschaltung des Servers spricht schon Bände.

Eben dieser Mensch hat den Vorsitzenden Richter am Schiedsgericht gebeten, die Begründung des inzwischen gefällten Urteils vorab zu "leaken", um zu wissen, wie die Server in Betrieb zu nehmen seien. Ich finde, für ein Mitglied des Bundesvorstands gehört sich das nicht. Die Quittung hat er auch prompt bekommen in Form eines Antrags auf Verwarnung an den Bundesvorstand. Update 10.08.10:Dieser Antrag wurde inzwischen zurückgezogen. Nur der Vollständigkeit halber.

Aber mal ganz abgesehen von diesem und allem, was dieser ansonsten wirklich sehr nette Mensch sich da geleistet hat: Ich finde, er müsste sich entschuldigen. Bei denjenigen Piraten, die eben diese datenschutzrechtlichen Bedenken von Anfang an geäußert haben, denn er hat es vorgezogen, ihre Sorgen nicht ernst zu nehmen.

Er sollte sich meiner Ansicht nach auch dafür entschuldigen, dass er Liquid Feedback so, wie er und seine Mannschaft es zur Verfügung zu stellen bereit waren als die einzige Möglichkeit dargestellt hat, ein verlässliches Meinungsbild einzuholen.

Er müsste sich dafür entschuldigen, dass er so getan hat, als hätten nur diese zwölf Piraten sich "den Arsch aufgerissen", während alle anderen faul auf dem Sofa lagen und darauf warteten, dass es etwas zu kritisieren gäbe.

Und ganz bestimmt sollte er sich für die Sturheit entschuldigen, mit der er versucht hat, Liquid Feedback nach seinen Vorstellungen und denen vielleicht ansonsten noch einer Handvoll anderer Piraten durchzudrücken, eine Sturheit, mit der er und die anderen von Anfang an konsequent auch an den 80% Piraten vorbeientwickelt haben, die sich für Liquid Feedback ausgesprochen haben.

Ich rate (auch wenn das jetzt ungelegen kommt, weil mich keiner drum gebeten hat) allen Piraten, in Zukunft derart schwammige Anträge abzulehnen. Wer für solche Unternehmungen nicht einen vernünftig ausgearbeiteten Plan vorlegen kann und nicht in der Lage ist, im Antragstext genau zu formulieren, was er vorhat - der soll, bitte, nach Hause gehen.

Links:

Wenn es noch weitere Links gibt, die hierherpassen, erweitere ich die Liste gern

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