AD(H)S existiert wirklich!

veröffentlicht von Esmeralda
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Dies ist meine Antwort auf den Artikel Wo die wilden Kerle wohnen aus dem Onlineangebot der FAZ vom 13.02.2012.

Liebe Frau Hoffmann,

liebe Frau Schmeichler,

Ihr Artikel Wo die wilden Kerle wohnen befaßt sich sehr zurecht mit der Tatsache, dass AD(H)S inzwischen eine Modediagnose ist, die mehr oder weniger auf Wunsch der Eltern oder der Schule gestellt wird, auf dass Kinder schon im Grundschulalter mit Medikamenten an das Lerntempo und die Lernumgebung angepaßt werden, die in der Schule vorgegeben werden. Es ist richtig, darauf aufmerksam zu machen, dass viel zu viele Kinder Medikamente bekommen, die ganz massive Nebenwirkungen haben, dass in sehr vielen Fällen eine Medikation überhaupt nicht notwendig wäre und vor allem darauf, dass sowohl eine sehr sorgfältige Diagnostik als auch eine begleitende Psychotherapie unabdingbar sind.

Schade, dass Sie die Chance verpasst haben, tatsächlich sachlich darüber aufzuklären, was AD(H)S eigentlich ist, sondern sich dazu hinreißen lassen, einen Artikel zu bringen, der impliziert, dass AD(H)S eine reine Erfindung sei. Damit, dass Sie sich auf diese Argumentation versteifen, machen Sie für diejenigen, die wirklich heftigem Leidensdruck ausgesetzt sind, das Leben in keiner Weise leichter. Ich möchte auch nicht wissen, wieviele Lehrer sich nun schon wieder befriedigt zurücklehnen, weil sie sich in ihrer Ansicht bestätigt sehen, dass AD(H)S ja sowieso nur die Verzweiflungsdiagnose sei, die unfähige, überprotegierende Mütter den entnervten Kinderärzten aus dem Kreuz leiern, damit ihre Kinder endlich Ruhe geben und sie selbst den Raum haben, sich klischeekonform zu verwirklichen.

Ihr Artikel erzählt die Geschichte von Paul, dessen Mutter ein Tweed-Kostüm und eine Perlenkette trägt, die "Werberin" ist und Pauls Krankengeschichte routiniert als Power-Point-Vortrag zum Besten gibt.

Will heißen: Das arme Kind leidet an einer überehrgeizigen Mutter, die ihr Kind lieber für krank erklärt und mit Medikamenten ihren Ansprüchen anpassen läßt, als sich Zeit zu nehmen für ihren hibbeligen Sohn, der den Papa in der WG schon einmal besucht und sich dort wohl gefühlt hat. Ja, Pauls Eltern leben getrennt; welcher Mann würde es bei einer solchen Frau auch aushalten?

Dem gegenüber steht Robin, dessen Mutter Künstlerin ist und dessen Eltern wohl auch nach wie vor zusammenleben - trotz des anstrengenden Kindes, das natürlich keine Medikation bekommt. Robin ist ein richtiger Junge, nicht so ein geschniegeltes Kinderpüppchen wie Paul. Robin trägt einen stoppelkurzen Fußballerhaarschnitt und eine Zahnspange. Robins Eltern haben sich dem Befehl des Kinderarztes nicht gebeugt, für sie ist es auch nicht so wichtig, dass Robin aufs Gymnasium geht, nein, das wollte Robin, der zwar nicht so toll ist in der Schule, aber dafür ohne Medikamente. Mir kommt das Kotzen, wenn ich lese, wie zwei Frauen (!) auf diese emotionale Art und Weise Klischees bedienen, ganz ehrlich.

Sie haben offensichtlich nicht begriffen, dass AD(H)S tatsächlich existiert. Sicher nicht ansatzweise so häufig wie es diagnostiziert wird - das kritisiere ich genauso wie alle, die sich diesem Thema mit Vernunft widmen. Aber es existiert. Und diejenigen Kinder, die AD(H)S haben, benötigen tatsächlich deutlich mehr Zuwendung, mehr Unterstützung, mehr Zeit als diejenigen, die das nicht haben. Für so etwas ist - zumindest in bayerischen Schulen - aber keine Zeit. Sie haben richtig gelesen: Ich spreche jetzt mal nicht von den Elternhäusern, sondern von den Schulen.

Über andere Bundesländer lasse ich mich nicht aus, denn ich weiß nicht, wie dort mit den Schülern umgegangen wird. In Bayern wird erwartet, dass Eltern gefälligst gefügige, stillsitzende, gottesfürchtige Normschüler anliefern, die sich widerstandslos im ebenso genormten Frontalunterricht unterweisen lassen. Das ist schon für Kinder, die eigentlich vollkommen normal sind, eine Tortur. Für Kinder mit AD(H)S ist das eine reine Katastrophe, sie kommen damit nicht zurecht. Also gibt es zwei Möglichkeiten: Medikation plus Psychotherapie und "Normalbeschulung" oder keine Medikation plus eventuell Psychotherapie und Sonderbeschulung. Ach, Verzeihung: Förderbeschulung. Und dieses Szenario wird Eltern sehr drastisch vor Augen geführt von den Schulen, die kein "anormales" Kind haben wollen.

Wer jemals einem "Beratungslehrer" gegenübergesessen hat, der erklärt hat, man habe da ein beSONDERes Kind, das müsse auf eine beSONDERe Schule, der weiß, wovon ich spreche. Und der weiß auch, wie die Reaktion ausfällt, wenn man sagt, dass das eigentlich nicht das war, was man sich für sein Kind vorgestellt hat.

In den nächsten paar Monaten wird man sich als Mutter wohl wieder nur in Jeans und Turnschuhen in die Sprechstunde beim Lehrer wagen dürfen. Und bloß nicht zugeben, dass man vielleicht hier und da mal keine Zeit hat für sein Kind. Und um Himmels willen nicht sagen, dass man alleinerziehend ist und arbeiten gehen muss, damit die Familie über die Runden kommt. Und auch nicht im Ansatz andeuten, dass es notwendig ist, dabei einigermaßen anständig angezogen zu sein oder gar, dass einem die Arbeit auch noch Spaß macht und das Kind aber gleichzeitig leider doch Legastheniker ist. Denn wenn der Lehrer, mit dem man da redet, Ihren Artikel gelesen hat und die entsprechenden charakterlichen Eigenschaften, meine Damen, dann wird er mit Verachtung auf diese Mutter herabsehen. Das könnte die Mutter vielleicht verkraften - aber das Kind hat es dann auszubaden.

Diese Mechanismen befeuern Sie nachgerade mit Ihrem Artikel. Ich weiss, dass Sie das nicht tun wollten. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass 90% der AD(H)S-Diagnosen echte, ernsthafte Fehldiagnosen sind. Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie in Zukunft freundlicherweise in sachlicher Form genau das berichten würden, anstatt Mütter zu diffamieren, weil sie ein Tweedkostümchen tragen, arbeiten gehen und die Krankengeschichte ihres Sohnes als Slideshow auf dem Laptop haben oder Mütter in den Himmel zu heben, weil sie einen anderen Weg gegangen sind.

Das Problem an der Psychotherapie ist übrigens wesentlich seltener, dass Eltern meinen, das "gedopte" Kind habe sie nicht nötig. Nein, es ist viel einfacher und viel trauriger: Die Wartezeit auf einen Therapieplatz liegt bei ungefähr einem Jahr. Will heißen: Es wird festgestellt, dass das Kind professionelle Unterstützung benötigt und dann darf es erstmal ein Jahr Methylphenidat schlucken, ohne dass eine Psychotherapie auch nur ansatzweise in Sicht kommt.

Auch Mütter sind auf eingehende ärztliche Beratung angewiesen; auch Mütter sind nur Menschen. Und Mütter von Kindern mit AD(H)S machen es sich normalerweise nicht so leicht, wie Sie es hier darstellen. Ganz im Gegenteil.

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