Anonyme Briefe

veröffentlicht von Esmeralda, 8 Kommentare
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Es gab da eine anonyme E-Mail, die bedauerlicherweise zu viel Beachtung findet. Ich fasse zusammen, warum ich finde, dass man solchen Briefen möglichst wenig Beachtung zuteil werden lassen sollte.

Irgendjemand hat eine anonyme E-Mail geschrieben und sich darin über bestimmte Personen in nicht sehr schmeichelhafter Weise geäußert. Der Schreiber richtet sich an einen begrenzten Personenkreis, von dem er sich wohl erhofft, er würde den Inhalt möglichst weit verbreiten. Das ist gelungen. Inzwischen habe ich einen Blogbeitrag, einige Tweets und diverse Mails gelesen, die zu dieser anonymen Mail Stellung nehmen. Teils mit Zurückweisung, teils mit Zustimmung. Es ist ja auch legitim, zu einer Meinungsäußerung Stellung zu nehmen - vor allem, wenn sie die eigene Meinung ziemlich deckungsgleich, wenn auch sehr polemisch widerspiegelt, sollte man meinen. Ich finde, für anonyme Briefe, Mails und Anrufe dieser Qualität gilt das nicht.

Ich bin gegen Klarnamenspflicht in Liquid Feedback und ich bin der Ansicht, dass jeder, der seine Meinung zu tagesaktuellen Themen im Internet äußert, das auch unter Verwendung eines Pseudonyms - also anonym - tun dürfen sollte. Da gibt es aber auch einen ganz gewaltigen Unterschied: Liquid Feedback ist ein Meinungsbildungstool, das von einer recht großen Gruppe (in diesem Fall die Piratenpartei, klar) für politische Diskussionen und für die Erarbeitung von Anträgen genutzt wird. Ziel ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit Themen. Standpunkte zu Themen innerhalb einer größeren Gruppe zu vertreten kann, vor allem, wenn man nicht mit dem Mainstream schwimmt, ausgesprochen schwierig werden. Nicht jeder fühlt sich der Aussicht auf Diskussion zu jeder Zeit gewachsen, manche fürchten die persönliche Auseinandersetzung. Aus dem Grund gibt es ja auch geheime Wahlen in diesem Land. Auch ein Kommentar unter einen Blogbeitrag oder einen Artikel in einer Online-Nachrichtenplattform ist eine sehr öffentliche Angelegenheit, die eventuell ähnliche Diskussionen und Auseinandersetzungen nach sich ziehen kann.

Sicher wird die Möglichkeit der öffentlichen Äußerung unter Vermeidung der Nennung des eigenen Namens hier und da mißbraucht. Es gibt Menschen, die die Möglichkeit, sich in den Schatten der Anonymität zurückziehen zu können, für Mobbing oder einfach nur zur Erprobung ihrer eigenen Fähigkeiten zur Provokation benutzen. Im Großen und Ganzen finde ich aber, dass die Menschen mit dieser Möglichkeit doch sehr vernünftig umgehen.

Anonyme Briefe haben eine vollkommen andere Qualität. Sie haben den Sinn und Zweck, innerhalb einer scharf begrenzten Gruppe (einem Dorf oder einer Firma, beispielsweise) Zwietracht zu säen. Sie sollen spalten, sie sollen Fronten aufbauen, sie sollen Menschen gegeneinander aufbringen. Üblicherweise geschieht das, indem in so einem anonymen Brief das eine oder andere steht, was entweder von der Gruppe derer, die ihn zu lesen bekommen, ähnlich empfunden wird oder in demjenigen oder denjenigen, der/die in so einem Brief Erwähnung finden, gewisse Ängste erzeugt und so ein bestimmtes Verhalten begünstigt. Die Art anonymer Briefe, von der hier die Rede ist, kritisiert immer ad hominem, selbst wenn die Kritik im sachlichen Gewand daherkommt.

Je mehr Verbreitung das anonyme "Werk" findet, desto zufriedener ist der anonyme Briefschreiber, denn er kann zusehen, wie er sein Ziel erreicht, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen, ohne Verantwortung für sein Tun übernehmen zu müssen. Er sieht, wie er an Einfluß gewinnt, wie er andere Menschen in jede beliebige Richtung manipulieren kann. Es gibt Leute, die dieses geheime Machtspielchen zutiefst genießen.

Deshalb bin ich der Überzeugung, dass man anonyme Briefe oder E-Mails nicht weiterverbreiten sollte. Man sollte nicht auf sie Bezug nehmen und auch nicht aus ihnen zitieren, selbst wenn man mit der darin geäußerten Beurteilung einer Person übereinstimmt. Wenn man durch so einen Brief dazu angeregt wird, seine Kritik öffentlich zu äußern, dann sollte man immer seine eigene Kritik selbst formulieren. Niemals sollte man Zitate aus anonymen Briefen übernehmen. Diese Macht darf man dem Schreiber einfach nicht über das eigene Denken zugestehen. Die Piratenpartei hat ein Motto, das häufig zitiert wird:

Denk selbst!

Zum selbst Denken gehört auch die eigene Formulierung. Gerade in solchen Fällen ist das essentiell, um sicherzustellen, dass einem da nicht etwas in die unterbewußten Gedankengänge schlüpft, was dort nichts zu suchen hat.

Ich bitte alle Empfänger anonymer Briefe, E-Mails und Anrufe, unbedingt darauf zu achten, dass dem anonymen Gegenüber auf gar keinen Fall Macht über die eigenen Gedankengänge eingeräumt wird. Menschen, die so etwas tun, werden das Machtgefühl, das davon herrührt, immer wieder empfinden wollen und deshalb auch immer wieder solche Briefe verfassen oder Anrufe tätigen. Und die Qualität wird härter werden, die Angriffe übler, die Anschuldigungen widerlicher. Es wird immer irgendwo ein Stück Wahrheit verborgen sein und deshalb werden sich immer Menschen finden, die sich davon beeinflussen lassen - und das Machtgefühl des Schreibers damit befeuern. Deshalb: Nie, nie, niemals auf anonyme Pamphlete antworten. Nie. Auch dann nicht, wenn der Schreiber "doch eigentlich nur die Wahrheit" sagt. Er tut es nicht, denn Wahrheit ist nicht sein Ziel. Er will Macht.

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