Tichys Hexenjagd

veröffentlicht von Esmeralda, geändert am , 7 Kommentare
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Immer wieder passiert es: Jemand tut Unbedachtes, wagt es, eine unreflektierte Meinung zu äußern, hat die Stirn, auf andere zu schimpfen, benimmt sich unsäglich in diesem Neuland, das wir alle nur zu gut kennen und schon beginnt der Lynchmob auf Menschen einzuschlagen. Gottseidank meistens - wie auch im vorliegenden Fall - "nur" verbal. Aber es wird nicht lange dauern, bis die Dämme brechen. Und dann? Tja.
"Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung"
Antoine De Saint-Exupéry

Roland Tichy vertritt auf seinem Blog erzkonservative Ansichten. Das darf er tun, denn:

Der Artikel 5 im Grundgesetz besagt:

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Auch die Grenzen sind klar definiert:
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Ich kann mich Herrn Tichy und seinen Mitautoren meistenteils nicht anschließen, lese dort aber trotzdem, allein schon, um die Ansichten zu kennen, die da vertreten werden. Was du kennst, kannst du widerlegen.

Dieses Mal war es die Meinung eines Gastautors, welche nicht die Zustimmung einiger Neulandbewohner fand und Auswirkungen hatte, die sie sich so möglicherweise nicht vorgestellt hatten. Es stellt sich die Frage, ob es das nächste Mal vielleicht meine Meinung oder vielleicht euere ist, die zu so einer Online-Jagd mit all ihren Konsequenzen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, führt. Überlegt ein wenig und beachtet dabei die "Schere im Kopf", die dazu führt, dass man seine Meinung lieber für sich behält, bevor man verbale Tritte ins Gesäß erntet.

Die Erklärung von Herrn Tichy ist, dass er auf den beanstandeten Artikel erst durch den Shitstorm, der daraufhin losbrach, aufmerksam geworden ist. Er hat ihn daraufhin sofort gelöscht und sich für die Veröffentlichung entschuldigt. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein.

Aber er war ja auch noch der Herausgeber der XING-Newsseiten. Die engagierten Menschen in den sozialen Netzwerken sahen hier die Möglichkeit, einfach, schnell und unbürokratisch vom heimischen Sofa aus "was gegen Rechts" zu tun. Und das haben sie gründlich getan. Der Druck, der da nicht nur auf Tichy selbst ausgeübt wurde, sondern auch auf XING, mit Kündigungen von Premiummitgliedschaften, mit Accountlöschungen und mit teils wahrhaft unterirdischen Beschimpfungen ist mir, auch wenn ich das nicht kommentiert habe, nicht entgangen. Mit einem Male ist ein ganzes Unternehmen in den Augen des wütenden Lynchmobs einfach nur noch Abschaum.

Wer muss schon nach dem Autor des Gastartikels fragen? Und was geht es die sozialen Medienkonsumenten an, dass der Text gelöscht wurde? Ha, den kann man notfalls ja republizieren, das Internet vergißt nichts. NICHTS! Es ist wahrhaftig nicht das erste Mal, dass mir so etwas vor die Augen kommt.

Das mit dem Hinterfragen haben sich sowieso sehr viele Leute in diesem Neuland einfach abgewöhnt. Egal, wo sie politisch stehen: Sobald einer der Meinungsführer das Verbrechen wider seine Regeln erkennt und aufschreit, rennt der Mob hinterher. Wenn dann einer, den man blöd findet*, verstummt, weil er Morddrohungen bekam, dann lachen sie laut und hämisch auf - egal, ob dieser Mob nun links oder rechts angesiedelt ist.

Mich kotzt das alles einfach nur an. Es kotzt mich an, dass Menschen, die von "linksgrünversifften Wasauchimmer" herumschwallen, fürchten müssen um ihren Arbeitsplatz, ihre Gesundheit, ihr Leben und das ihrer Familien.

Es kotzt mich an, dass Menschen, die Frau Merkel für "wir schaffen das" einfach dankbar sind, die Erbarmen haben mit denen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, die Flüchtlinge willkommen heißen und versuchen, ihnen so gut es geht zu helfen, wo der Staat im Moment einfach versagt, mit Verachtung gestraft werden und ebenfalls mit Repressalien, Arbeitsplatzverlust, Schaden an Leib und Leben bedroht werden.

Was für eine verfluchte Welt ist das eigentlich, in der ich da leben muss? Was für eine Menschenverachtung herrscht hier insgesamt, dass über jeden, der eine Meinung äußert, sofort hergefallen wird?

Was für eine Gesellschaft ist es, in der Meryl Streep für ihre klare, deutliche Ansage anläßlich der Golden Globes gelobt wird - und der, der sie lobt, sofort mit "ja, aber als Obama diesen Krieg führte, dieser Friedensnobelpreisträger, da hat sie nichts gesagt!" abgekanzelt wird?

Ich habe das Gefühl, ich lebe in einem grausamen, unbarmherzigen Albtraum. Und er wird täglich schlimmer. Ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob ich in so einer Gesellschaft überhaupt noch fähig bin, politisch zu arbeiten. Und ich fange an, den Sinn zu bezweifeln, den diese Arbeit hat.

* eventuell sogar zurecht, aber selbst Leute, die man blöd findet, dürfen sagen, was sie denken ohne Angst vor Verfolgung oder Restriktionen, siehe oben.

Kommentare

Gernot Back

schrieb am

Es geht ja noch weiter: Nicht nur der Beitrag des Gastautors Jürgen Fritz wurde gelöscht, sondern heute auch sämtliche Beiträge David Bergers aus der Vergangenheit; so als ob er dort nie geschrieben hätte. https://www.facebook.com/davidbergerpublizist/posts/1385133608164469:0

Auf David Bergers Website "Philosophia Perennis" ist der Artikel des Gastautors bei TE, Jurgen Fritz, der die Hexenjagd anstieß, im Wortlaut nachzulesen. https://philosophia-perennis.com/2017/01/08/gruen-linke-gutmenschen/

Jinx

schrieb am

Ob man seinen Xing-Account wegen Herrn Tichy löscht oder nicht, sollte jeder für sich entscheiden. Es gibt sowohl Gründe dagegen als auch Gründe dafür, vor allem, wenn es sich um einen Premiumaccount handelt.

Aber dieses Aus-allem-eine-Religion-machen führt vor allem dazu, dass man die echten Probleme aus den Augen verliert und sich an den Souterrains der Nebenschauplätze abarbeitet.

Ich denke, dass es legitim ist, seine diesbezügliche Meinung öffentlich zu äußern (ich lösche meinen Account ja/nein/vielleicht), aber die meisten haben offenbar verlernt, konträre Meinungen einfach mal stehen zu lassen und anzuerkennen, dass man mit manchen Leuten in diesem Punkt keine Einigkeit erzielen kann. Stattdessen wird plötzlich wildfremden Online-Existenzen ein geistiger Einklang mit dem eigenen Selbst abverlangt, der selbst bei persönlichen Beziehungen zur geistigen Verödung führt.

Mal abgesehen davon, dass dauernd Leute, die sich exponieren oder die exponiert werden, bedroht werden, teilweise mitsamt der ganzen Familie.

Ich denke, es sind in den letzten Jahren ein paar Hemmschwellen zu viel gefallen. Das Ergebnis ist ein Dauergetobe über alle politischen Grenzen hinweg.

Demokratie muss mehr geistige Freiheit aushalten, mehr konträre Meinungen, mehr Diskussion und sich damit die Möglichkeit bewahren, sich zu entwickeln. Das gegenseitige Niederschreien via Social Media wird nicht einen einzigen Menschen von der Meinung der anderen Seite überzeugen. Eine fundierte, engagierte Diskussion vielleicht schon. Angesichts dieser Entwicklungen fühle ich mich ähnlich entmutigt wie du.

Flo

schrieb am

Ich muss gestehen, eine Sache ist mir noch unklar...

Wir brauchen uns nicht über Morddrohungen, Gewaltdrohungen und allgemein alle Beschimpfungen auslassen, das ist scheiße, braucht es nicht, sondern könnte man zivilisiert mit Argumenten lösen, gar keine Frage. All das spricht nur gegen die Drohenden, Schimpfenden und nicht gegen das Ziel dieser Drohungen und Beschimpfungen.

Aber, und das ist die Frage, ist eine XING-Mitgliedschaft eine Bürgerpflicht? Steht es nicht jedem völlig frei, aus was für Gründen auch immer, so eine zu haben - oder eben zu kündigen? Wenn jemand denkt, dass diese Verbindung mit Tichy ausreicht, um das nicht zu wollen, mag einem das idiotisch oder überzogen vorkommen, aber ist das nicht trotzdem das gute Recht jedes einzelnen, das für sich zu entscheiden?

Das mag nun, selbst wenn die Leute nichts sonst tun, im Extremfall zu einer Kündigung führen, aber ist es irgendwie die Pflicht der Leute, ihre politischen Gefühle zurück zu halten, zu schweigen, nur damit irgendwer seinen Job behalten kann? Muss man dann, so als Beispiel, auch die Klappe halten, wenn ein Supermarkt-Angestellter einen Behinderten beleidigt, nur weil der sonst seinen Job verlieren könnte?

Man mag sich durchaus streiten, ob diese politische Meinung nicht völlig überzogen ist, aber es ist irgendwie auch schräg, die Flagge der Meinungsfreiheit hoch zu halten, aber es gleichzeitig den Leuten zum Vorwurf zu machen, dass sie ihre (evtl. dumme) Meinung durch solche Aktionen (also das Kündigen - bei Beschimpfungen, etc. sind wir uns völlig einig) äußern.

Ich habe nun schon an mehreren Stellen irgendwie mitbekommen, dass scheinbar XING-Accountlöschen moralisch verwerflich ist. Leider fürchte ich, kann ich mich dem nicht ganz anschließen. Über den Shitstorm, etc. braucht man nicht zu sprechen, scheiße, klar. Aber was jeder mit seinem Geld macht, ist doch seine Sache, oder? Wenn in einer Kneipe stadtbekannte Neonazis am Tresen stehen, macht es mir doch auch keiner zum Vorwurf, wenn ich mein Bier anderswo trinke. Genausowenig wie es verwerflich ist, wenn der Konservative sein Bier nicht in einer Kneipe trinkt, wo der Eigentümer eine "Die Linke" Flagge aufhängt.

Habe ich da noch irgendeine Implikation übersehen, die das in einem anderen Licht erscheinen läßt?

Hinweis: Persönlich habe ich einen XING Account und werde ihn auch behalten, auch Online-Beschimpfungsorgien sind nicht mein Ding. Würde ich jeden unpassenden Text als Anlaß für einen Schreikrampf nutzen, wären meine Nachbarn bald ausgezogen, das ist mir zu stressig ;-)

Christian Kruse

schrieb am

Das schlimme daran finde ich, dass wir so den Rechten in die Hände spielen. Das ist doch genau das, worüber die AFD-Szene sich aufregt und woher der Spruch "man wird doch noch sagen dürfen" kommt. Wasser auf deren Mühlen.

Aber wenn wir noch ein paar Safe Spaces einrichten wird bestimmt alles besser!

Frank Denzel

schrieb am

Danke für diese Worte. Ja, sowohl von Rechts als auch von Links wird Andersdenkenden die Meinung verboten - oder zumindest zu etwas Asozialem erklärt.

Warum ist Wut salonfähig geworden? Warum ist Nächstenliebe nur noch etwas, auf dem herumgetrampelt werden darf? Warum sind Selbstlosigkeit und Mitgefühl nicht mehr zu sehen?

Ich habe auch das Gefühl, in einem unbarmherzigen Alptraum zu leben. Was eigentlich Symptom klinisch als "antisoziale Persönlichkeitsstörung" bezeichnet wird, wird zum Massenphänomen.

Dennoch, mach bitte weiter mit deiner politischen Arbeit! Es wird nicht so übl bleiben, wie es ist, auch dank Menschen wie dir.

KopfZuTisch

schrieb am

Es ist gut eine Meinung zu haben. Aber manche Meinungen sollte man nicht öffentlich äussern. Nicht weil sie besonders kontrovers sind, oder unagebracht. Sondern weil sie manchen Leuten nicht gefallen könnte. Und weil man um deren Macht in den sozialen Netzwerken weiß. Deswegen gibt es Leute, die Ihre Meinung anonym äussern, um Racheakten, wie anschwärzen beim Arbeitgeber (so wie es Herr Lauer zB tut) oder anderen Aktionen aus dem Weg zu gehen. Man lernt aus Shitstorms. Und behält seine Meinung für sich, oder tut sie nur anonym kund. Ansonsten schweigt man. Bis sich die richtige Gelgenheit bietet.

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