Verbrechen verhindern durch Abschiebung?

veröffentlicht von Esmeralda, geändert am
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Sylvia Steinitz fragte heute morgen auf Twitter, ob Herr Pfeffer von der BamS recht habe damit, dass Abschiebungen konsequenter durchgesetzt werden müssten, weil die Verbrechen von ausreisepflichtigen (und teils auch -willigen) geduldeten Menschen dann nicht mehr passierten. Nun, ich halte Herrn Pfeffers Denkansatz für zwar vom emotionalen Standpunkt aus konsequent, aber dennoch für wesentlich zu kurz gegriffen.

1. Verbrechen passieren

Amokläufe (und so eine Messerattacke wie die in Barmbek ist einer, auch wenn der Täter dabei "Allahu akbar" schreit) passieren. Bis ein Mensch zu einer lebensbedrohlichen Waffe greift und auf andere, ihm völlig unbekannte Leute losgeht, muss einiges geschehen. Grundsätzlich sind solche Attacken, soweit ich es bisher verstanden habe, aber hauptsächlich Ausdruck einer nicht mehr erträglichen Frustration. Ich kenne den Attentäter von Barmbek nicht, von daher weiß ich nichts über seine Frustrationstoleranz, über das, was ihm bisher widerfahren ist und was ihn dazu bewegt hat, zu tun, was er tat. Dasselbe gilt übrigens für den jungen Mann, der in Berlin den LKW in den Weihnachtsmarkt gefahren hat. Insofern wäre alles, was zu diesen (und auch anderen speziellen Fällen) gesagt werden kann, ausschließlich Spekulation. Die können wir uns schenken, denn das tun andere schon in reichlichem Maße - unter anderem die BILD tut sich da sehr intensiv hervor. Wenden wir uns also lieber dem eigentlichen Problem zu:

2. Migration

In Deutschland wandern viele Menschen ein und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Da gibt es Leute, die hier arbeiten werden und bereits einen entsprechenden Vertrag mit einem deutschen Unternehmen haben. Die haben meistens auch die entsprechenden Papiere und leben recht unauffällig vor sich hin.

Dann gibt es Menschen, die um politisches Asyl nachsuchen. Auch diese Leute kommen meist relativ geordnet hier an, haben Papiere dabei, stellen ihren Antrag und begründen ihn. In dieser Gruppe gibt es natürlich auch welche, die sehr überstürzt abgereist sind, aber sie haben oft mehr dabei als die bloße Kleidung, die sie am Leib tragen und haben einen gewissen Plan für das, was sie hier unternehmen möchten.

Die überwiegende Mehrheit derer, die in den letzten Jahren kamen, sind Kriegsflüchtlinge. Flucht ist durch Hast gekennzeichnet. Eine Flucht kann man nicht übermäßig gut vorbereiten. Das ist einerseits die "Verdienstmöglichkeit" für Schlepper, die aus dem Leid der Menschen ihren Gewinn ziehen, andererseits eben auch der Grund, aus dem oft Papiere fehlen (entweder, weil sie tatsächlich nicht vorhanden waren oder weil der Schlepper zum Wegwerfen rät) und aus dem sich diese Menschen auf Boote begeben, von denen sie wissen müssen, dass der Untergang eigentlich nur eine größere Welle weit weg ist. Flucht ist Verzweiflung, ist Angst, ist komplette Irrationalität. Flucht hat nichts, aber auch gar nichts mit Berechnung zu tun.

Leute, die ausreisepflichtig werden, gehören meist zu den beiden letztgenannten Gruppen.

3. Unsere moralische Pflicht

Bei Adam und Eva anfangen möchte ich jetzt nicht. Wir alle wissen, warum im Grundgesetz das Recht auf politisches Asyl so hohen Stellenwert hat. Viele von uns wissen - wenn auch meist aus zweiter Hand, von Eltern oder Großeltern - was Flucht vor Krieg und Verfolgung bedeutet. Mindestens im Schulunterricht haben wir gelernt, was die Schrecken eines Krieges sind und sollten eigentlich alle verstehen können, dass man nur da weg will, wenn es um das nackte Leben geht.

Es ist also in der Tat unsere moralische Pflicht, Menschen hier aufzunehmen, wenn sie ankommen und mitteilen, dass sie vor einem Krieg geflüchtet sind oder politisch verfolgt werden. Mit der reinen Aufnahme ist es aber nicht getan - und genau da liegt einiges im Argen.

Als Frau Merkel erklärte, dass wir das schaffen, waren ihr die Dimensionen, die diese Aufgabe annehmen würde, sicher nicht klar. Es ging zunächst nur um Aufnahmekapazitäten, die Menschen brauchten ein Dach über dem Kopf, etwas anzuziehen, Essen, einen Schlafplatz. Das sind Dinge, die zwar nicht einfach zu organisieren waren, aber doch organisiert werden konnten. Was danach kam, war die deutlich schwerere Aufgabe: Integration. Was bedeutet das?

4. Integration

Jeder Mensch braucht Sinn in seinem Dasein. Über lange Zeiträume einfach nur in einem Lager zu sitzen, keine Privatsphäre zu haben und sein Schlafzimmer und sein Bad mit (manchmal sogar hunderten) anderen Menschen teilen zu müssen, ist frustrierend. Die Erleichterung, das eigene Leben und vielleicht ein paar Wertsachen gerettet zu haben, weicht bald der Frustration, vollkommen nutzlos zu sein. Das führt zur Sinnsuche - und das ist oft genug die Stunde der religiösen Extremisten. Hier finden sie ein sehr fruchtbares Rekrutierungsfeld.

Es gilt also, den Menschen, die da geflüchtet sind, ihre Würde wiederzugeben in Form eines wirklichen Privatlebens und sie darin zu unterstützen, ein sinnvolles Dasein zu führen. Und genau an der Stelle haben wir es eben nur sehr unzureichend geschafft.

Das geht los mit der mehr oder weniger willkürlichen Definition dessen, was "sichere Herkunftsländer" so sein sollen. Ein Land, das ein Innenminister nur mit einem Troß aus Sicherheitsleuten und mit einem Stahlhelm auf dem Kopf betreten kann, ist nicht sicher, auch nicht für Menschen, die von dort stammen. Gewehrkugeln und Bomben unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse - sie töten die, die da sind. Afghanistan "sicher" zu nennen, war einer der übelsten Fehler, die gemacht wurden.

Das Wichtigste, was diese Menschen brauchen, wenn sie mit Wohnung, Kleidung und Essen versorgt sind, wird ihnen nur sehr unzureichend zuteil: Bildung. Sie müssen die Landessprache lernen - und das so gut und schnell wie möglich. Sie brauchen eine Ausbildung. Sie brauchen danach Arbeit, sie brauchen ein sinnvolles Dasein und ein soziales Netz, das aus allen besteht, die hier leben.

Das BAMF bemüht sich, keine Frage. Die Möglichkeiten sind nicht übermäßig gut, keine Frage. Aber auch hier wirken Mechanismen, die denen der Schlepper nicht unähnlich sind: Unternehmen konzipieren "Integrationskurse" und bieten sie dem BAMF an. Wenn das Konzept einmal geprüft und für gut befunden ist, kümmert sich kein Mensch mehr. So kommt es, dass Lehrkräfte Integrationskurse leiten, ohne auch nur den Ansatz einer Ahnung zu haben, was eine posttraumatische Belastungsstörung ist und wie man damit umgeht. Dass die Gruppen zu groß sind. Dass kein Lehrmaterial zur Verfügung steht. Dass zu wenige Sozialarbeiter und Psychologen da sind - letztere sowohl für die Teilnehmer als auch für das übrige Personal. Teilnehmer, die gut weiterkommen und einen Ausbildungsplatz haben, bekommen plötzlich und ohne ersichtlichen Grund (weder für die Teilnehmer selbst, noch für die Lehrkräfte, noch für die Sozialarbeiter) einen Abschiebebescheid und müssen mitten in der Ausbildung gehen. Das frustriert sowohl die "Ausreisepflichtigen", als auch die, die mit ihnen zusammen hart daran gearbeitet haben, dass sie so weit kommen. Eine Duldung wäre an der Stelle das mindeste - hier geht ja auch Geld verloren, das Arbeitgeber in diese Auszubildenden investiert haben.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt. Die Abschiebepraxis in Deutschland ist tatsächlich mindestens schwer zu durchschauen. Welche Kriterien angelegt werden, weiß wohl niemand so genau. Fest steht, dass die Qualifizierung der Sachbearbeiter, die über Abschiebungen entscheiden mindestens verbesserungswürdig ist. Fest steht auch, dass die Betreuung der Menschen mit Blick auf posttraumatische Belastungsstörungen sehr zu wünschen übrig läßt.

Das alles entschuldigt selbstverständlich keine Verbrechen, es ist maximal eine Erklärung. Was notwendig ist, ist eine "Vermenschlichung" des staatlichen Apparates, es werden gezielte, fallbezogene Hilfen benötigt, medizinisch wie sozial. Und es werden tatsächlich Entscheider benötigt, die deutlich besser ausgebildet sind als das Gros derer, die da momentan Entscheidungen treffen.

Dazu braucht es uns alle. Jeden einzelnen. Unser Verständnis dafür, dass der Islam eine Religion ist, dass der Glaube allein nicht den Verbrecher macht, sondern der Rattenfänger, der auf dem Ticket der Religion reist und dem Verzweifelten einen Halt gibt, den wir ihm offensichtlich nicht geben. Der dadurch den Hass des Verzweifelten auf uns schürt und damit erst die Grundlage für den Glauben legt, dass jeder, der nicht Moslem ist, sein Recht auf Leben verwirkt habe.

So stehen eben wir alle in der Pflicht, das unsere dazu beizutragen, dass wir ein Miteinander leben, anstatt durch Ignoranz den Grundstein zu legen für die Verbrechen, die aus Wut, Verzweiflung, Hass und Verblendung begangen werden. Kümmern wir uns um die, die hier sind, damit sie durch das Zusammenleben mit uns eine Bereicherung für ihr Leben erfahren. Das wiederum wird uns ebenfalls bereichern und den Aufbau einer tatsächlichen Weltgemeinschaft befördern, in der jeder seine Identität hat, ohne dem anderen die seine nehmen zu müssen.

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